Tazio Nuvolari - sein größtes Rennen
Der Grand Prix von Deutschland 1935
Mehr als fünf Jahre lang pflegte der Motorsport-Journalist L. Spencer Riggs eine intensive Brieffreundschaft mit Carolina Nuvolari, der Witwa des berühmten Grand-Prix Fahrers Tazio Nuvolari. "Ihre detaillierten Kenntnisse über den Maestro und sein fast schon mythisches Sportlerleben waren außerordentlich bemerkenswert", erinnerte sich Riggs später.
Er entführt uns, zusammen mit Carolina Nuvolari, zurück ins Jahr 1935, zum Großen Preis von Deutschland am Nürburgring in die Eifel.
Als das gigantische Luftschiff Hindenburg über dem Start- und Zielbereich auftauchte und immer wieder für einen kurzen Augenblick durch die lose Wolkendecke zu sehen war, ertönte das Signal 'Noch eine Minute'.
Nuvolaris Alfa erwachte zum Leben, noch hatte die naßkalte Maschine nicht die nötige Betriebstemperatur erreicht, aber Tazio behandelte sie vorsichtig und beobachtet dabei gespannt die ansteigende und wieder fallende Drehzahlnadel.
Nur 30 Sekunden später waren auch die Auto-Union-Fahrzeuge mit ihrem unverkennbaren, bellendem Auspuffgeräusch zu hören. Zehn Sekunden vor dem Start erzitterte dann der Boden vom Donner der fünf Mercedes-Benz.
Vorsichtig ließ Nuvolari die Kupplung kommen. Als die Signale von Rot auf Gelb und dann auf Grün umschalteten, schoß der Italiener an die Spitze. Caracciola war aus der dritten Reihe gestartet und folgte im Höllentempo, noch vor der Südkehre hatte er den Alfa eingeholt und die Führung übernommen. Hier vor der Kurveneinfahrt kam Fagioli dem Alfa in die Quere, und nur um ein Haar konnte Nuvolari einen Zusammenstoß verhindern.
Als das Feld den Streckenabschnitt Hohe Acht erreichte, führte immer noch Caracciola. Nun raste er hinunter durch den dichten Eifelwald. Die Zuschauer am Ende dieses Streckenstücks waren verblüfft, als nur wenige Sekunden nach dem Mercedes ein Stöhnen zu hören war und plötzlich Nuvolaris flammroter Alfa zwischen den Bäumen auftauchte. Der Fahrer, dessen flinke Handbewegungen zu sehen waren, hatte sein Fahrzeug fest im Griff. Augenblicke später war der Alfa im Dunst verschwunden.
Als die erste Runde zu Ende ging, schienen Nuvolaris Anstrengungen allerdings bereits sinnlos geworden zu sein. Zwölf Sekunden vor ihm hatte Caracciola zum erstenmal die Ziellinie überfahren. Da noch 21 Runden ausstanden, entschloss sich der Italiener nun, seinen Zweikampf mit dem Mercedes-Piloten einzustellen. Das Rennen dauerte noch lange. Nach und nach ließ Nuvolari jetzt Fagioli, Rosemeyer, von Brauchitsch und Chiron an sich heran.
Brivio war bereits ausgefallen, Chiron sollte kurz darauf das gleiche Schicksal ereilen. Nuvolari war nunmehr auf sich alleine gestellt, ein deutscher Sieg bei diesem Großen Preis so gut wie sicher. Mercedes-Rennleiter Alfred Neubauer signalisierte Caracciola, das Tempo zu halten - alles lief nach Plan für die Deutschen.
In der sechsten Runde startete Novolari seine Aufholjagt, fast in einem Atemzug kassierte er Rosemeyer und von Brauchitsch und stürmte der Spitze hinterher. Der Alfa Romeo meisterte Kurve nach Kurve, wunderbar driftete er über die Strecke, in den Kurven das Heck leicht versetzt, die Vorderräder eingeschlagen. Nuvolati, den Kopf leicht nach hinten haltend, die Arme fest ausgestreckt - war ganz das BIld des großen Champions bei seiner harten und gefährlichen Arbeit. Als Fagioli einen Boxenstopp einlegte, übernahm der Mann aus Mantua den zweiten Platz hinter Caracciola, in der zehnten Runde hatte er den Spitzenreiter dann endlich eingeholt. Als beide ins Karusell schossen, hielt sich Nuvolari weit rechts außen nahe an der Begrenzungshecke. Caracciola schien den unvermeidlichen Zusammenstoß beider Fahrzeuge zu erwarten, aber der kleine Meisterfahrer aus Italien presste seinen Alfa am Deutschen vorbei und übernahm ausgangs der Kurve die Führung.
Fast zwei Runden lang hielt Novolari nun die Zuschauer in Staunen - mehr als 200.000 ZUschauer diskutierten, wie und warum der Alfa plötzlich in Führung lag. Rosemeyer, von Brauchitsch und Caracciola wechselten sich inzwischen immer wieder in der Verfolgung ab, hingen hauchdünn an den Hinterrädern des roten Alfa. Aber der Italiener schaffte es immer wieder durch seine perfekten Fahrmanöver, den heulenden 3,8 ltr Wagen an der Spitze zu halten.
In Runde 13 mußte die Spitzengruppe geschlossen an die Boxen zum Nachtanken und Reifenwechsel. Die Teamarbeit bei Mercedes-Benz und Auto Union glich einem geölten Räderwerk. Während hier die Fahrzeuge von Hochdruck-Tankanlagen versorgt wurden, schämte man sich bei Alfa über die vorsindflutliche Betankung per Handpumpe.
Nach 47 Sekunden startete als erster wieder von Brauchitsch ins Rennen, kurz danach folgten Caracciola und Rosemeyer. Im Lager von Alfa gab es zu diesem Zeitpunkt helle Aufregung: ein kräftiger Mechaniker hatte den Griff der Handpumpe verbogen und ein Desaster angerichtet. Als ein Trichter gefunden worden war, lonnten die Italiener den Alfa literweise aus Kannen betanken.
Signora Nuvolari beschrieb den dramatischen Moment an der Box näher:"Tazio war außer sich. Er sprang auf und nieder, schrie, verfluchte die Mannschaft. Ich hatte ihn niemals zuvor so wütend erlebt. ER warf Zündkerzen nach denjenigen, die untätig herumstanden." Als bereits 2 Minuten und 15 Sekunden verstrichen waren, sprang er ins Cockpit und jagte dem Feld hinterher.
Auf der Strecke hatte Nuvolari inzwischen alles auf eine Karte gesetzt. Sein Gesicht war finster geworden, die Augen loderten,fast hätte er sich durch Stuck, Fagioli und Caracciola hindurchgebohrt, als er diese endlich überholen konnte. Caracciola war erleichtert, als der Italiener vorbeigezogen und der Mercedes-Benz noch heil war. An Rosemeyer schoss Nuvolari vorüber, als ob dieser auf der Piste stehen würde.
Soeben hatte Neubauer von Brauchitsch noch das Zeichen "alles in Ordnung" gegeben, als die Menge aufschrie - da war auch schon Nuvolari, nur noch 70 Sekunden hinter von Brauchitsch. DEr Kleine Italiener hatte in nur einer Rennrunde fast alle verlorene Zeit wieder wettgemacht, ein Ding der Unmöglichkeit, an diesem Tag aber wahr.
Neubauer hatte von Brauchitsch inzwischen angewiesen, das Tempo zu erhöhen. ER sollte so einen weiteren Zeitvorsprung herausfahren. Von Brauchitsch brach kurz danach den Rundenrekord, er wusste 200.000 Zuschauer in der Eifel hinter sich, dieser Große Preis war sein Heimrennen.
Als noch 4 Runden zu fahren waren, blieb Neubauer schließlich nur noch Kopfschütteln. Er konnte nicht glauben, was er von der Stoppuhr ablas: Nuvolari hatte den Abstand zu von Brauchitsch auf 64 Sekunden verkürzt, ein paar Kurven später betrug der Abstand nur noch 60 Sekunden. "Er kann Manfred nicht mehr einholen", tobte der Rennleiter "Niemals, niemals."
Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, nur noch die Streckenabschnitte durch Waldgebiete waren nass, an den meisten Stellen trocknete die Fahrbahn. Von Brauchitsch blickte immer wieder in seine Rückspiegel, um den Alfa rechtzeitig auszumachen. Dabei sah er auch, wie sein linker Hinterreifen dünner und dünner wurde. Auch Neubauer bemerkte dies, befahl seinem Piloten aber, das Tempo zu halten. Der Reifen würde die beiden letzten Rennrunden bestimmt noch heil überstehen.
Als Nuvolari 32 Sekunden nach von Brauchitsch an der Mercedes-Box vorbeirauschte, stammelte Neubauer nur:"Das ist einfach unmöglich. Niemand kann so viel Vorsprung aufholen".
Carolina Nuvolari schildert die letzte Phase des legendären Großen Preises von Deutschland so:"Tazio sah weder nach rechts noch nach links. Er blickte nur starr auf die Piste, um jeden Moment seinen Gegner vor sich zu sehen". Von Brauchitschs Crew drängte jetzt Neubauer, den Fahrer an die Box zu winken. "Nein, er wird die Führung und das Rennen verlieren, der Reifen wird halten", lehnte der Chef ab.
Inzwischen hatte Tazio seine Wut in den Griff bekommen und war kühler geworden. Er fuhr mit der selben Gelassenheit wie zu Beginn des Rennens. Seine duklen Augen hinter der mit Dreck und Öl bespritzen Schutzbrille fixierten jetzt in einiger Entfernung eine Wasserfontäne - das musste von Brauchitsch sein. Der entdeckte im Streckenabschnitt Tiergarten plötzlich im Rückspiegel, dass der Hinterreifen bereits bis zur weißen Leinwand abgefahren war. Er meldete diesen alarmierenden Zustand im Vorbeifahren der Box, Neubauer aber lief auf die Piste und schwenkte die schwarzrote Flagge "schneller, Gas geben".
35 Sekunden später raste Nuvolari an den Mercedes-Leuten vorbei. Carolina Nuvolari berichtet:
"Ferrari und einige Mitglieder des Teams meinten, Tazio würde sich nun mit dem zweiten Platz begnügen.Um seiner Gesundheit willen dachte ich ein paar Momente genauso. Aber tief im inneren meines Herzens ahnte ich, dass dem nicht so sein würde." Die letzte Rund begann, die einzige, die bei diesem Großen Preis zählen würde. Würde sie zu lang sein für den Führenden, oder zu kurz für den Verfolger? Am Flugplatz war Nuvolari bereits fünf Sekunden näher an von Brauchitsch herangerückt. Kurve auf Kurve, Meter um Meter schloß der Meister aus Italien langsam die Lücke. Die letzten Rennrunden hatte Nuvolari ohne den kleinsten Fehler absolviert, hatte den Alfa gehetzt, in Kurven fast überbeansprucht, immer wieder vor Zerreißproben gestellt. Vom Streckenabschnitt Adenauer Forst bis hin zur Kurve am Bergwerk hatte Nuvolari seinen Wagen unerbittlich durch die Kurven schleudern lassen - er fuhr hier das brilliantest Rennen, das die Grand-Prix-Geschichte je erlebt hatte. Es war ein Lehrstück an Fahrkunst, das den Zuschauern Ehrfurcht abnötigte. Und mit jeder Reifenumdrehung wurde diese legendäre Fahrt im Rückspiegel des führenden Mercedes-Benz um ein kleines Stück deutlicher.
Bei Breitscheid verrenkten sich die Zuschauer die Hälse, als der infernalische Klang des Mercedes zu hören war. Noch führte Manfred von Brauchitsch, Sein Fahrstil wurde immer verzweifelter, immer wilder, während sein Verfolger herankam. Hinauf zum Streckenabschnitt Karussell stürzten die Rennwagen bereits gemeinsam: von Brauchitsch traute sich nicht, sich umzusehen, Nuvolari rechts neben dem Deutschen, lauerte auf seine Chance. Wie ein Matador, der das Tuch zur Seite gelegt hatte und nun zum Todesstoß ansetzte. Dann geschah es: der Hinterreifen des Mercedes-Benz explodierte, Gummifetzen und Teile der Füllung flogen auf die Fahrbahn, hinterließen eine Spur hinter dem wie von einer Faust getroffenen Fahrzeug. Von Brauchitschs Wagen gerriet ins schleudern, rutschte auf der engen Piste direkt in die Linie des Alfa. Der kleine Meister aus Italien steuerte instinktiv um seinen hilflosen Gegner herum auf die gegenüberliegende Fahrbahnseite und ging in Führung. Einige Augenblicke danach donnerte der Alfa über die Ziellinie und holte sich den Sieg. Dahinter folgten Stuck, Caracciola und Rosemeyer. Von Brauchitsch erreichte auf der Felge das Ziel als Fünfter.
Quelle: 75 Jahre Nürgurgring - Behrend/Frödisch - Heel Verlag