Teil 3
Der Star ist die Mannschaft
Die Tür oben links auf der Galerie ist verschlossen, seit einer ganzen Weile schon. Die Jalousien am kleinen Fenster sind fest zugezogen; kein Blick gelangt ins Innere. „Scuderia Ferrari Marlboro“ steht auf einem kleinen weißen Zettel an der gelblich gestrichenen Tür, und es ist klar: Betreten für Unbefugte verboten. Es ist Sonntag, später Nachmittag in Suzuka an diesem 13. Oktober 2002, das letzte Rennen der Saison ist schon seit einigen Stunden vorüber, die Weltmeisterschaft sogar schon seit dem Sommer entschieden. Ein paar Treppenstufen weiter unten, im Fahrerlager, stehen die Motorexperten Norbert Haug und Mario Illien von McLaren Mercedes, ein paar Journalisten und Schumachers Physiotherapeut Balbir Singh. Sie warten. Darauf, dass die Tür oben sich endlich öffnet. Balbir Singh schaut auf die Uhr, schüttelt ungläubig den Kopf. Einer holt eine Runde Dosenbier, denn oben rührt sich immer noch nichts. Mario Theissen, Chef von BMW Williams, kommt dazu, auch ihm wird ein Bier in die Hand gedrückt. Die Saison ist vorbei, nun soll noch gefeiert werden an diesem letzten Tag, dann werden sich alle trennen und auf die kommende Saison hinarbeiten. Ralf Schumacher schlendert vorbei, schaut nach oben zur verschlossenen Tür, grinst. Stell sich dazu, nimmt auch ein Bier. Da öffnet sich die Tür und heraus tritt ein Ferrari-Ingenieur. Er blickt nach unten, sieht die Menschen im Fahrerlager sich entspannen und verdreht halb amüsiert, halb genervt die Augen. Zückt sein Mobiltelefon, spricht kurz, geht wieder hinein. Die Gruppe unten bricht in Lachen aus. Scuderia Ferrari Marlboro, alles gewonnen, und dennoch alle am Arbeiten.
Länger als eine Stunde dauert die Besprechung dann, die sich an das Saisonfinale in Japan 2002 anschließt, nach den obligatorischen Pressekonferenzen, versteht sich. Ferrari hat bei diesem Rennen wieder mal einen Doppelsieg gelandet, den 9. in dieser Saison. Ungefährdeter und überlegener Sieger: Michael Schumacher. Der Mann allerdings auch, der sich wieder einmal in Ideen und Vorschläge verstrickt hat, die er unbedingt noch loswerden möchte, bevor es in die Winterpause geht. Also sitzt er da mit seinen Ingenieuren. Ihm ist etwas aufgefallen während des letzten Rennens: Bei einem der 19 Knöpfe an seinem Lenkrad könnte noch eine Funktion dazu geschaltet werden, das würde sicherlich einen kleinen Vorteil bringen. Diese Szene versinnbildlicht Michaels Einstellung zu seinem Beruf, seinem Sport.
Nie vergaß Michael nach einem Rennen, dem Team zu danken, das Team herauszustellen, die Bedeutung des Teams hervorzuheben. Nie vergaß er, die Formel-1, in der viele eine Ein-Mann-Show sehen, als Mannschaftssport darzustellen. Eine Eigenschaft, die nicht nur Teamchef Jean Todt schätzt: „Selbst unter sehr schweren Bedingungen hat sich Michael nie beklagt. Er hat sich den Dingen gestellt und nie auch nur die leiseste Kritik geübt.“, sagte er einmal.
Ein Testtag in Fiorano, der Ferrari-Hausstrecke in Maranello. Es ist später August, heiß, Samstagnachmittag, und es ist schon der 4. Testtag mit Michael – von morgens um 9 bis abends um 19 Uhr, für die Mechaniker demnach von 7 bis 22 Uhr. Kein Lüftchen regt sich, der Schweiß rinnt allen den Rücken hinab, die Gesichter in der Garage glühen vor Hitze, und dieser Fahrer lässt einfach nicht nach. Plötzlich fährt ein kleiner Lieferwagen vor die Garage, ein Mann in einer dunkelroten Livree steigt aus und holt einen Klapptisch aus dem Auto. Baut ihn auf, breitet ein gelbes Tischtuch darüber und verteilt Kanister mit Eis darauf. Ein anderer hat derweil eine Leiter an den Baum dahinter gelehnt und daran eine alte Glocke befestigt. Der Eismann ist da, heimlich organisiert von Michael. Und so stehen schließlich die Mechaniker wie die Schulbuben in einer Reihe vor dem Eismann, und der Fahrer steht lachend dazwischen. Es sind auch diese spontanen Einfälle, die kleinen Gesten, die Michaels Führungsstil beschreiben.
Laut Ross Brawn, Technischer Direktor bei Ferrari und schon zu Benetton-Zeiten einer von Michaels Vertrauten, war Schumacher mehr als seine Berufskollegen in der Lage, am Limit zu fahren, gleichzeitig aber auch das Rennen um sich herum zu verarbeiten – und so Strategien während des Wettkampfs mit zu überdenken oder zu verändern. „Er konnte die Rolle des Formel-1 Fahrers ausfüllen, und dann hatte er zusätzlich noch Kapazitäten frei, um an das Rennen zu denken, daran zu denken, was um ihn herum passiert“, erklärte Brawn in einem Fernsehinterview. „Manchmal meldete ich mich über Funk, und dann war das so, als ob Sie und ich uns unterhalten – man konnte denken, er sitze genau neben einem und tue nichts. Im Gegensatz dazu habe ich mit Fahrern gearbeitet, die so gerade eben mit dem, was sie tun, zurechtkommen und daneben keine Kapazitäten mehr freihaben. Das ist der Unterschied zwischen ihm und anderen Normalsterblichen.“ Schumacher selbst erachtete dies als seine wahrscheinlich deutlichste Stärke.
Die Kraft der Rituale
Das einzige wirkliche Ritual, das der Weltmeister vor dem Rennen brauchte, war sein Schläfchen. „Ja, das habe ich immer gemacht“, nickt er. „Wie lange, ist unterschiedlich, mal kürzer, mal länger – je nachdem auch, wie lange das Briefing sich vorher hinzog. Manchmal war ich nur eine ganz kurze Phase eingeschlummert, aber das reichte dann schon. Manchmal schlief ich auch tief und fest für eine halbe Stunde. Seit 1998 habe ich das gemacht, es war mir wichtig. Es war einfach angenehmer, wenn ich es geschafft habe – ob ich es wirklich gebraucht habe weiß ich selber nicht.“ Und wie war es vor einem entscheidenden Rennen? „Auf jeden Fall nicht so, dass ich dann so aufgedreht war, dass ich nicht schlafen konnte. Das hatte damit nichts zu tun. Es gab schon mal Nächte vor einem Rennen, in denen ich weniger gut schlief. Ich glaube, das lag meistens an der Zeitumstellung, und nicht an irgendwelchem Druck – vielleicht schon mehr an Stress, aber damit meine ich weniger den Stress durch das Rennen als den von anderen Dingen, Terminen mit der Presse zum Beispiel, aber auch von anderen, privaten Dingen.“
Lack statt Laufsteg
Eine von Michaels Stärken, das bestätigen alle, die mit ihm arbeiteten, war seine Fähigkeit, während des gesamten Tages immer auf dem gleichen Level zu bleiben. Dadurch waren die Erkenntnisse enorm aussagekräftig, weil die Wahrscheinlichkeit, dass Zeitunterschiede auf Leistungsschwankungen zurückzuführen waren, extrem niedrig war. „Er konnte sehr konstant fahren, jede Runde innerhalb einer Zehntel, was sehr wertvoll ist. Er konnte genau beschreiben, wie es sich anfühlte, und er wusste, was er will“, sagt Ferrari-Chefaerodynamiker Rory Byrne. „Er war wirklich eine große Hilfe für jeden Ingenieur, weil er gerne testete und an Details arbeitete, um genau die Sache herauszufiltern, um die es ihm ging. Ferrari-Motorenchef Paolo Martinelli sagt über den erfolgreichsten Fahrer in der Geschichte des Traditionsrennstalls: „Er konnte das Verhalten des Motors bei jedem Punkt der Strecke beschreiben.“
Und so wirkte es nie, als sei Michael gelangweilt beim Testen, unlustig oder genervt. Irgendwie war er immer motiviert. 145 881 Kilometer testete er von Ende 1995 bis Ende der Saison 1006 für den roten Rennstall, damit ist er mehr als 3,5 Mal um die Erde herum gefahren. Wobei das Jahr 2006 mit 16 216 Kilometern den 2. Platz des Rankings einnimmt – hinter dem Ferrari-Rekordjahr 1998, als Michael insgesamt 22 170 Kilometer auf Testrecken absolvierte. Damals jedoch hatte Michael noch nicht 5 Titel mit der Scuderia gewonnen. Die 16 216 Kilometer zeigen, welchen Aufwand es bedurfte, nach dem Absturzjahr 2005 wieder an die Spitze zurückzukehren.