Vor einigen Jahren war in der NZZ ein Bericht über Jo Siffert - ich habe ihn mal etwas zusammengekürzt - damit er hier rein passt. Ganz interessant (wenn Ihr ihn noch nicht kennt):
Sein tödlicher Unfall liegt 34 Jahre zurück - trotzdem ist Sifferts Name in den Köpfen vieler Schweizer lebendig geblieben. Jean Tinguely hat Teile seiner Rennwagen zu Kunstwerken verarbeitet, Niklaus Meienberg hat ihn in einem Essay verewigt. Warum spricht man noch von einem Sportler, dessen Erfolge Jahrzehnte zurückliegen und der es sportlich nie so weit wie Clay Regazzoni brachte, der 1974 als Vizeweltmeister auf dem Podest stand?
Siffert ist die Schweizer Version der amerikanischen Rocky-Legende, in der sich ein mittelloser Nobody nach oben boxt. Nur ist die Geschichte von Siffert echt - und beginnt in den Gassen der Freiburger Unterstadt.
Der kleine Jo Siffert startet bereits mit einem Handicap, als er 1936 zur Welt kommt: Sein rechter Fuss ist stark nach innen gedreht, er muss sich einige Monate nach der Geburt mehreren Operation unterziehen, um die Fehlstellung des Fusses korrigieren zu lassen. Die Folgen werden ihn sein Leben lang begleiten - ein rechtes Bein, das etwas kürzer ist.
Siffert hat weder Startkapital noch einen reichen Vater: Seine Eltern führen in der Freiburger Unterstadt einen Milchladen, der sich nicht rentiert - sie wissen manchmal nicht, wie sie mit ihren drei Kindern über die Runden kommen sollen. Bereits mit acht zieht Jo zusammen mit seinen Schwestern und einem kleinen Anhänger durch die Stadt, um Altpapier zu sammeln. Er ist ein stiller Schüler. Wichtiger ist für ihn die Frage, wie er ein wenig Geld verdienen kann. Rentabler als Altpapier und Lumpen, so lernt er, ist das Einsammeln von Patronenhülsen in Schiessständen - das bringt ihm 4 Fr. pro Kilo. Bereits mit zwölf, als ihn sein Vater mit zum Grand Prix nach Bern nimmt, beschliesst er, sein Leben fortan auf einen einzigen Traum auszurichten: Rennfahrer zu werden. Ohne Wenn und Aber.
Mit geborgtem Geld kauft er sich mit 21 seinen ersten 'Renntöff', eine 125er Gilera. Mit einer 350er AJS geht er erstmals ins Ausland. Er hat zu jener Zeit kaum Geld, um den Treibstoff für den Transporter zu bezahlen - Siffert muss sich alles vom Mund absparen.
Zwischendurch hilft der drahtige, kaum 60 Kilo schwere Siffert als Beifahrer im Seitenwagen von Edgar Strub aus. 1958 verfängt sich seine linke Hand in den Speichen des Seitenwagenrads - seine Fingernägel werden abgerissen. Im Spital rät man ihm, auf das Rennen am folgenden Tag zu verzichten. Er startet trotzdem, verliert im Rennen seinen Verband, Treibstoff aus dem übervollen Vergaser fliesst über seine Wunde, er kann sich nur noch knapp mit seiner rechten Hand halten, schlittert aus dem Korb und schafft es dank einer scharfen Bremsung von Strub wieder zurück in den Wagen. Das Gespann erreicht trotzdem das Ziel, Siffert blutverschmiert von Kopf bis Fuss. Ein Jahr später fahren Strub/Siffert auf Platz drei in der Weltmeisterschaft.
Nach dem Wechsel auf vier Räder ist die Welt nicht einfacher: Siffert steigt meistens auf minderwertigem Material in die Rennen - und kämpft mit Geldmangel. Mit viel Talent gleicht er solche Nachteile aus.
Auf dem Weg zu einem Formel-JuniorRennen in Wien gibt sein alter Transporter den Geist auf. Er muss ihn unterwegs reparieren und erreicht die Rennstrecke erst, als das Training zu Ende ist. Er darf zwar am Rennen teilnehmen - aber aus der letzten Startposition. Einmal mehr bewegt er seinen Wagen hart am Limit, fährt die schnellste Runde und sieht schliesslich als Erster die Zielflagge.
Sein erstes offizielles Formel-1-Rennen im belgischen Spa 1962 beendet Siffert als Zehnter - auf einem Lotus mit Vierzylinder-Motor, während fast alle anderen Konkurrenten auf viel stärkeren Acht-Zylindern unterwegs sind. Beim nächsten Rennen löst sich die Kupplung nach fünf Runden in ihre Bestandteile auf. Für Monaco kann sich Siffert 1962 nicht einmal qualifizieren. In Deutschland liegt er zwei Runden vor Schluss auf dem vierten Platz - dann gibt der Motor den Geist auf.
1964 kauft er sich mit seinem angesparten Geld einen Brabham-BRM. Doch die Kurbelwelle des Motors bricht oft. Innerhalb weniger Wochen braucht er drei neue Wellen, das Stück zu 8000 Franken - ein kleines Vermögen. Als er sich mit seinen Freunden nach Sizilien aufmacht, um an einem nicht zur WM zählenden GP in Enna teilzunehmen, "da haben wir nicht mehr im Hotel übernachtet, weil wir dazu kein Geld mehr aufbringen konnten. Wir schliefen im Wagen oder im Freien, es war ja warm, und wir assen die billigsten Gerichte, meist nur Spaghetti mit Tomatensauce", zitiert Buchautor Richard von Frankenberg den Piloten.
Er gewinnt das Rennen, weil er es gewinnen muss - und schlägt dabei Weltmeister Jim Clark auf seinem Werks- Lotus. Nicht zum ersten Mal: Bereits im April 1963 siegt er vor Jim Clark, dem damals besten Rennfahrer überhaupt. Doch der Grand Prix von Syrakus zählt leider nicht zur WM...
In den darauffolgenden Jahren muss der Freiburger aber erneut unzählige Rückschläge verkraften - und scheidet mehrmals in Führung liegend wegen Defekten aus.
Jo Siffert erweist sich von Beginn weg als Rennfahrer, der stets alle Risiken eingeht, egal, auf welchem Platz er liegt. "Er hatte grossen Ehrgeiz und verfolgte sein Ziel mit einer unglaublichen Sturheit", erinnert sich Rudolf Kurth, der damals auch Rennfahrer war.
Erst 1968 steht Siffert ganz oben auf dem Podest - auf der Piste von Brands Hatch, auf der er später sein Leben lassen sollte. Damit gelingt ihm der letzte Sieg eines Privatfahrers in einem Formel-1-Rennen. Das Zeitalter der wilden Amateure, die Rennen fuhren, weil sie das tun mussten, war damit vorbei: Diese Fahrer waren nicht Angestellte von milliardenschweren Konzernen, und sie bewegten Wagen, die noch nicht mit Werbung zugekleistert waren. Am Ende dieser Saison ist Siffert als Werksfahrer für Ferrari im Gespräch. "Der damalige Porsche-Rennleiter fuhr extra zum letzten Grand Prix nach Mexiko, um Siffert von einer Vertragsunterzeichnung abzuhalten", berichtet Zeitzeuge und Sportjournalist Adriano Cimarosti. Die Deutschen befürchten, Siffert würde sonst auch die Langstreckenrennen auf Ferrari bestreiten. Der treue Schweizer bleibt bei Porsche und erneuert seinen Vertrag für das private Rob-Walker-Team in der Formel 1. Siffert ist ein grosser Kämpfer, aber kein grosser Taktiker.
Statt sich auf die Königsklasse zu konzentrieren, will er möglichst überall fahren. Er ist der Schwerstarbeiter unter den Grand-Prix-Fahrern, bestreitet pro Saison bei 45 Rennen und spult dabei etwa das Dreifache seiner Kollegen ab: Siffert startet in der Formel 1 (March, BRM), Formel 2 (BMW), der Sportwagen-Weltmeisterschaft (Porsche) - und in der lukrativen nordamerikanischen CanAm-Serie. Und dazwischen verkauft er noch Occasions- Autos in seinem Betrieb in Freiburg.
Erst in den Langstreckenrennen auf Porsche kann er sein volles Talent entfalten. Erstens kommt es hier auf den Durchhaltewillen an, und zweitens stand ihm Topmaterial zur Verfügung. Er leistet immer wieder Unglaubliches: 1968 startet er in einem Lauf zur Markenweltmeisterschaft der Sportwagen in Sebring auf dem Vorjahresmodell von Porsche (907) mit einem 2,2-Liter-Achtzylinder-Motor, der 265 PS hergibt. Er trat damit gegen die mächtigen Ford GT40 an, die aus ihren mehr als doppelt so grossen 4,7-Liter-Motoren etwa 430 PS schöpften, sowie gegen die Lola mit ihren 5-Liter-Motoren. Siffert hechtet beim Start am schnellsten in seinen Wagen, bringt den Motor sofort in Gang und kommt aus der Startrunde als Erster zurück. Er wird zwar von ein par stärkeren Wagen zwischendurch überholt, doch sie müssen nach und nach Boxenstopps einlegen oder scheiden aus. Siffert und sein Partner Hans Herrmann gewinnen das Rennen überlegen.
1969 hat Porsche besseres Material: den Typ 908 und das Monstrum 917 (580 PS bei 800 kg Gewicht). Siffert und Brian Redman gewinnen in Brands Hatch, Monza, Spa, Nürburgring (mit Ahrens), Zeltweg. Siffert sei stets schneller als sein Teamkollege Redman gewesen und holte für Porsche überall die Kastanien aus dem Feuer. Niemand kann den Freiburger schlagen, auch nicht die damaligen Grössen Ickx, Rodriguez oder Amon. Siffert schenkt Porsche Siege in Serie und 1969 den Titel eines Weltmeisters der Konstrukteure bei den Sportwagen.
Das Phänomen Siffert kann man nur begreifen, wenn man auch seinen ausgeprägten Geschäftssinn versteht. Der junge Jo entscheidet sich für eine Lehre als Karosseriespengler, weil hier die Perspektive lockt, Unfallwagen aufzumöbeln und mit Gewinn verkaufen zu können. Er bedingt sich bei seinem Lehrmeister aus, am Abend auf eigene Rechnung Unfallwagen reparieren - und verkaufen zu können.
Auch beruflich ist Siffert zu schnell für das Gesetz: Weil er noch nicht 18 ist und noch keinen Fahrausweis hat, liefert er die Wagen jeweils nachts seinen Kunden ab. Die existenziellen Nöte seiner Kindheit formen ihn zu einem harten, zähen und gerissenen Händler.
Siffert mischt an verschiedensten Orten mit - unter anderm auch als Vermieter von Rennfahrzeugen für Filmaufnahmen. Als sich Steve McQueen während der Dreharbeiten für den Le-Mans-Film entscheiden muss, welchen Overall er tragen will, sagt er: "Ich will genau so aussehen wie Jo Siffert."
Der Rennfahrer gefällt auch den Frauen. "Ich habe Jo Siffert niemals mit einer Frau zusammen gesehen, die nicht ausgesprochen hübsch war", eröffnet von Frankenberg seine Biografie. Rennfahrer, die seine Motorrad-Zeit miterlebten, erzählen sich heute noch die Episode, wie Siffert nach dem Isle-of-Man-Race kurz vor der Abfahrt der Fähre in Unterhosen und mit dem Hemd in der Hand im Fahrerlager auftauchte: Er hatte auf der Insel ein Techtelmechtel mit einer englischen Lady, die ihm danach partout seine Kleider nicht mehr aushändigen wollte.
Siffert ist bis heute aktuell geblieben. Vielleicht, weil sein Leben ein Gegenentwurf ist zum Modell der vorsichtigen, auf alle Seiten abgesicherten und nach Angebot und Nachfrage ausgerichteten Karriere.