Hier habe ich mal die Alternativ-Schilderung von Sid Watkins:
Ich war 1963 schon mal in Monza gewesen. Damals hatte Jim Clark gewonnen, dem man noch immer Vorwürfe wegen seiner Verwicklung in den tödlichen Unfall von Wolfgang Graf Berghe von Trips machte, der dort 1961 ums Leben gekommen war. Monza schien sich in den 15 Jahren nicht besonders verändert zu haben. Ich empfinde die Atmosphäre dort immer als zugleich melancholisch und frenetisch. Der Kurs hat einfach etwas Unheimliches, vor allem am frühen Morgen, wenn sich der Dunst langsam auflöst. Es erinnert mich an Flandern. Das mag an den vielen tödlich verunglückten Piloten liegen. Immerhin 50 in 50 Jahren - eine schlimme Statistik.
Wie damals üblich, hatte ich auf meine Anfragen keine Antwort bekommen, wußte also nicht, wie die medizinischen Einrichtungen waren. Es war in jenen Tagen nicht ungewöhnlich, daß meine Anfragen ignoriert wurden. Ich wurde dennoch freundlich von einem Chirurgen begrüßt, der das medizinische Zentrum leitete, das auf der Rückseite des Fahrerlagers lag. Die Einrichtung war einfach, aber alle wichtigen Dinge waren vorhanden. Sechs Ärzte, die in Anästhesie und Traumatologie ausgebildet waren, teilten sich die Aufgaben. Sieben Rettungswagen, zwei davon als rollende Intensivstationen umgebaut, standen am Rande der Strecke. Schnelle Einsatzwagen mit Ärzten befanden sich am Boxenausgang, der Brücke vor der zweiten Schikane und an der @ante Ascari. Der Hubschrauberlandeplatz lag neben dem medizinischen Zentrum. Das einsatzbereite Krankenhaus war das Ospedale Maggiore in Niguardia, zehn Flugminuten entfernt. Wie in jenen Tagen häufiger der Fall, hatte ich meinen Platz in der Rennleitung, wo ich alle Infonnationen über die Ereignisse während des Trainings und des Rennens erhielt. Die Trennung zwischen Rennleitung und medizinischem Zentrum bedeutete, daß ich durch das Fahrerlager zum Zentrum laufen mußte, was ungefähr drei bis vier Minuten in Anspruch nahm.
Ronnie Peterson hatte bis dahin ein unangenehmes Wochenende hinter sich gebracht, doch als ich ihn und seinen Teamgefährten Mario Andretti im Lotus-Motorhome besuchte, zeigte er sich gut gelaunt und locker. Nur wenig später schlug das Schicksal erbarmungslos zu. Innerhalb weniger Sekunden nach dem Start hatte sich ein schwerer Unfall ereignet. Autos standen in Flammen, und schließlich herrschte vor der ersten Schikane das totale Chaos. Wie sich später herausstellte, waren zehn der 24 Wagen an der Karambolage beteiligt. Das Magazin "Motor Sport" beschrieb den Hergang: "Patrese versuchte auf der rechten Seite der Piste Hunt zu überholen. Dabei berührte der Arrows den McLaren, der in die Seite von Petersons Lotus prallte, der dadurch wiederum mit der rechten Leitplanke kollidierte. Von dort schoß er wieder aut die Strecke, wo er von Brambillas Surtees gerammt wurde, der versuchte, dem Chaos auszuweichen."
Ich wollte zum Unfallort, doch Polizisten hinderten mich daran. Es gab keinen Weg an ihnen vorbei. Der Journalist Nigel Roebuck berichtete später, daß Peter Briggs vom Team Surtees, der sich nach dem Wohlbefinden seines Fahrers Vittorio Brambilla erkundigen wollte, von einem Polizisten daran mit einem heftigen Schlag in die Seite gehindert wurde. Einer der italienischen Offiziellen, der mich begleitete, versuchte den Polizisten meine Rolle zu erklären, doch es half alles nichts. In diesem Moment kam James Hunt auf dem Weg in die Boxen vorbei und erzählte, daß Peterson verletzt sei, sich aber Ärzte um ihn kümmerten. Auch ein Krankenwagen sei eingetroffen. Was er verschwieg, war die Tatsache, daß er den Schweden aus dem brennenden Wrack gezogen hatte. Ich machte mich nun auf den Weg zum medizinischen Zentrum.
Als ich dort eintraf, wurde Peterson gerade eingeliefert. Eine große Menge von Tifosi stand außerhalb der Zäune. Ronnie war bei Bewußtsein, seine beiden Beine waren aber schwer mitgenommen. Außerdem hatte er noch leichte Verbrennungen an der Schulter und seiner Brust. Er bekam einige intravenöse Infusionen. Sein Blutdruck war erstaunlich normal. Die anderen Ärzte schienten seine Beinbrüche, von denen einige sehr kompliziert wirkten. Es waren nun sehr viele Menschen im Zentrum, einschließlich eines Kerls, der versuchte, durch meine Beine hindurch zu fotografieren, was ich mit einem kräftigen Tritt belohnte. Die Szene beruhigte sich langsam. Ronnie sprach deutlich und vemünftig. Er wollte unbedingt, daß ich so schnell wie möglich in das Krankenhaus kommen sollte, was ich auch versprach. "Bitte verlassen Sie mich nicht, Doc!"
Auf einer Trage brachten wir ihn zum wartenden Hubschrauber. Ich fragte Rafael Grajales-Robles, Emerson Fittipaldis persönlicher Arzt, der im medizinischen Zentrum geholfen hatte, ob er den Schweden begleiten könne. Doch er hielt es wie ich für richtig, an der Strecke zu bleiben. Als der Helikopter abhob, tauchte Lotus-Chef Colin Chapman auf, dem ich erklärte, wie es um seinen Fahrer stand und wohin er gerade gebracht wurde.
Im medizinischen Zentrum warteten noch andere Piloten auf Behandlung. Vittorio Brambilla hatte eine schwere Kopfverletzung, er war von einem umherfliegenden Reifen getroffen worden. Er war ohnmächtig und linksseitig gelähmt. Puls und Atmung waren stabil. Hans Stuck (Shadow) klagte über starke Kopfschmerzen, nachdem auch er kurze Zeit ohnmächtig gewesen war. Er hatte eine leichte Gehimerschütterung und ich riet ihm, auf den Neustart zu verzichten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Nachrichten aus dem Hospital ermutigend. Peterson war in guter Verfassung eingetroffen und wurde geröntgt.
Das Feld war noch in der Aufwärmrunde, als sich Jody Scheckter mit einem fulminanten Crash verabschiedete und in die Leitplanken der zweiten Lesmo-Kurve prallte. Robert Langford kontrollierte die Unfallstelle und entschied, daß die Leitplanke ausgewechselt werden mußte. Das kostete noch mehr Zeit, was die Stimmung der Zuschauer nicht gerade verbesserte. Wie aus einem Mund forderten sie einen sofortigen Neustart, der schließlich um 17 Uhr stattfand. Wegen des mittlerweile schlechten Lichts war das Rennen auf 40 Runden verkürzt worden. Gegen Ende des Rennens hörten wir aus dem Krankenhaus, daß es zu Komplikationen gekommen war, die eine Operation notwendig machten. Die Blutversorgung in einem Bein war durch die Brüche gefährdet. Die Knochen sollten nun mittels Nägeln in eine bessere Position gebracht werden. In der Zwischenzeit war Ronnies Manager, Staffan Svenby, eingetroffen, der mir später erzählte, daß Ronnie die Entscheidung zur Operation ruhig und gelassen aufgenommen hatte.
Nach dem Rennen, es war nun stockfinster, ging ich zum Lotus-Motorhome, um Colin Chapman und Mario Andretti zu informieren. Noch immer waren viele Menschen auf der Rennstrecke unterwegs. Die Sicherheitskräfte waren nach dem Rennen abgezogen worden, so daß man sich nun völlig unkontrolliert bewegen konnte. Wir entschlossen uns, mit unseren Wagen zum Krankenhaus zu fahren. Der Hubschrauber war direkt nach dem Rennen entschwunden, so daß uns nichts anderes übrigblieb, als uns durch das Chaos zu kämpfen. Mario fuhr seinen Wagen, ich folgte ihm in meinem Leihauto. Unser Versuch, aus Monza zu flüchten, nahm viel Zeit in Anspruch. Zunächst hinderten uns die Menschenmassen an einer zügigen Fahrt und zwangen uns immer wieder zu Stopps. Mitunter versuchten die Tifosi sogar, den Wagen umzukippen. Zweitens wurde Mario bei jedem Zwangsstopp erkannt und entsprechend begrüßt und gefeiert. Irgendwann hatten wir es auf die Hauptstraße geschafft. Mario kannte eine Abkürzung über einige Feldwege zur Autobahn, doch dann bogen wir auf der Autobahn falsch ab und mußten ein langes Stück zurückfahren. Der Verkehr war so dicht, daß ich in meinem Fiat keine Probleme hatte, Marios Rolls-Royce zu folgen.
Wir erreichten dann doch noch das Krankenhaus, das von einer großen Menschenmenge belagert wurde. Durch ein Feuerwerk von Fragen arbeiteten wir uns unseren Weg ins Innere, wo man uns erklärte, daß Ronnie seit einigen Stunden im Operationssaal sei. Man lud mich ein, die Kleidung zu wechseln und die Operation zu beobachten. Alles schien bestens. Die Chirurgen arbeiteten an den letzten Brüchen. Ich redete mit dem Anästhesisten, der mir berichtete, daß Ronnies vitale Werte bestens seien. Die Blutkonserven hatten die korrekte Blutgruppe - es schien keine Probleme zu geben. Auf den Röntgenaufnahmen zählte ich insgesamt 27 Brüche in den Füßen und Beinen. Der Chefchirurg erklärte, daß alles nach Plan verliefe und daß man in absehbarer Zeit fertig sei. Danach kam Ronnie auf die Intensivstation, wo Vittorio Brambilla bereits lag. Zusammen mit einem jungen Neurochirurgen untersuchte ich Brambilla, der einen guten Eindruck machte. ziemlich zufrieden kehrte ich zurück und erklärte, das alles unter Kontrolle sei. Mario und Colin warteten im Vorraum, von wo aus Staffan Petersons Frau Brabro in Monaco über den Zustand ihres Mannes unterrichtete. Ich versicherte ihr, daß es im Augenblick keinen Zweifel daran gab, daß sich Ronnie wieder erholen würde. Sie plante, am nächsten Morgen nach Mailand zu fliegen. In der Zwischenzeit war es fast Mitternacht geworden. Staffan und ich hatten unser Hotel am Morgen aufgegeben, so daß wir uns eine Unterkunft in der Nähe des Krankenhauses suchten. Colin und Mario fuhren zurück in die Villa d'Este am Comer See.
Gegen vier Uhr am Morgen weckte mich Staffan. Das Krankenhaus hatte angerufen und von einer dramatischen Verschlechterung berichtet. Auf dem Weg ins Hospital berichtete er, daß jemand bei Barbro angerufen hatte, um ihr zu erklären, daß die italienischen Ärzte ihren Mann töteten. Wir haben nie herausgefunden, wer der Anrufer gewesen ist.
Als wir in der Intensivstation eintrafen, berichtete der Neurochirurg, daß Ronnie Atmungsprobleme entwickelt habe und nun künstlich beatmet wurde, um den Sauerstoffgehalt in seinem Blut aufrechtzuerhalten. Eine Röntgenaufnahme der Brust hatte eine Vielzahl von kleinen Embolien in seiner Lunge offenbart. Seine Nierenfunktion war stark zurückgegangen. Er war ohne Bewußtsein, und eine neurologische Untersuchung ergab Anzeichen einer schweren Himschädigung. Mit einem Augenspiegel stellte ich Fettröpfchen in den kleinen Arterien der Retina beider Augen fest. Es sah ziemlich hoffnungslos aus. Die anwesenden Neurochirurgen gingen auf meinen Vorschlag ein, mittels eines EEG die Himfunktionen zu überprüfen.
Staffan und ich informierten Colin Chapman und Bemie Ecclestone über die Entwicklung. Colin setzte sich sofort von Como aus in Marsch, und auch Bernie traf wenig später im Krankenhaus ein, wollte genau informiert werden. In der Zwischenzeit hatte sich die Situation weiter verschlechtert. Die Neurologen hatten den Hirntod festgestellt. Mrs. Peterson war noch auf dem Weg nach Mailand, so daß ich nicht mir ihr reden konnte. Wir alle waren äußerst konsterniert, was auch mit den Schwierigkeiten zusammenhing, die in Italien nach dem Tod eines Rennfahrers entstehen. Ich verließ die Klinik mit einem Mitglied von Team Lotus und fuhr zum Flughafen. Vor dem Krankenhaus wartete eine riesige Menschenmenge. Die Nachricht von Petersons Tod hatte sich über die Gerüchteküche schnell verbreitet, so daß die Stimmung am Flughafen sehr gedrückt war. Es ist immer das gleiche, wenn ein brillanter Fahrer und beliebter und respektierterMann gestorben ist. Es wird nicht viel geredet. Jeder ist alleine mit seiner hilflosen Trauer. Die britischen Zeitungen waren einige Tage voll mit Berichten über die Tragödie. Es gab lautstarke Forderungen, Monza aus dem Formel-1-Kalender zu streichen. Einige Tage später erfuhr ich das Ergebnis der Autopsie. Peterson war an einer Einbolie gestorben. Fettröpfchen waren in der Lunge, den Nieren und im Gehirn entdeckt worden.
Im nachhinein wurde mir klar, daß die Reaktion des Rettungsteams auf das Unglück absolut unzureichend gewesen war. Nach den unterschiedlichen Schätzungen vergingen zwischen elf und 18 Minuten, bis der Krankenwagen eingetroffen war. Daher kam Bemie zu dem Schluß, daß meine Autorität ausgeweitet werden und ich die Rettungsarbeiten überwachen mußte, anstatt nur den medizinischen Ratgeber abzugeben. Dies würde bedeuten, daß ich eine wesentlich aktivere Rolle auf den Strecken zu spielen hatte. Diese Entscheidung, auch das war klar, würde viel Widerstand hervorrufen. Eines der Probleme von Monza war, daß es nach dem Unfall keinerlei Inforinationen gab und niemand nach der Absperrung durch die Polizei auf die Piste gelassen wurde. Trotz der Geschwindigkeit der Formel-1-Monoposti wurde ganz offensichtlich ein Wagen mit medizinischer Besatzung benötigt, der dem Feld nach dem Start folgen mußte. Bemie, Niki und Jackie Stewart sahen dies als vemünftige Lösung, doch es gab viel Protest in den nächsten Monaten, und es mangelte auch nicht an Versuchen, uns zu sabotieren, obwohl es im Januar 1979 in der ersten Kurve beim Grand Prix von Argentinien wieder zu einem schlimmen Unfall gekommen war.