`Das nächste Portrait hatte ich schon am Anfang der Saison geschrieben:
Jules Bianchi
F1-Verträge, das ist kein Geheimnis, sind das Papier nicht wert, auf die sie geschrieben sind. Die Welt ist unverbindlich, heute hält nur noch jede zweite Ehe, andere gehen mehrere Bündnisse für das Leben ein – und lassen sich dann wieder scheiden. Das Marussia-Team erlebte zwei F1-Scheidungen – und das noch vorm Rennstart in Melbourne! Ein Cockpit und jetzt schon der dritte Fahrer, wo noch kein einziger Rennkilometer absolviert ist.
Erst trennte man sich von Timo Glock, der eigentlich bis 2014 ans Team gebunden war, aber kein Geld brachte, wo doch das Team Geld brauchte. Jetzt fährt der Deutsche für BMW in der DTM. Dann kam Luiz Razia, immerhin zwei Mal bei Tests im Wagen, aber dann musste er schon wieder zuschauen. Seine üppige brasilianische Sponsoren-Mitgift war wohl doch nicht so üppig wie vorher gedacht, wie in den Verhandlungen angekündigt, wie im Vertrag festgesetzt. Also wird’s nichts mit dem GP-Debüt.
Nichts ist bitterer, als so kurz vor dem Ziel zu stehen und dann doch wieder ausgebootet zu werden. Aber Razia ist nicht der erste, dem das passiert. Oliver Gavin sollte 1995 für das Pacific-Team fahren, aber Papierkram hinderte dem britischen F3-Meister von 1995 am F1-Debüt. Im selben Jahr sollte auch Christophe Bouchut sein F1-Debüt geben, der Gewinner des 24-Stundenrennen von Le Mans 1993 im Peugeot. Doch das Larrousse-Team sperrte noch vor dem Saisonstart zu. Oder Ricardo Londono, der 1981 bei Ensign keine Superlizenz bekam. Wie auch Akihiko Nakaya 1992 bei Brabham nicht, oder Katsumi Yamamoto 1995 bei Pacific nicht. Auch Privatmeldungen wurden nicht immer akzeptiert: Mit gekauften March-Boliden wollen 1976 Karl Oppitzhauser, Jorge Bagration und Jean-Louis Lafosse fallweise an den Start gehen, aber daraus wurde nichts.
Die Sache bei Razia war aber schon immer komisch: Die Verpflichtung hat als erster er selbst auf seiner Homepage verkündet. Dann dauerte es aber noch ein paar Tage, bis auch Marussia den Deal offiziell machte. Sogar die Präsentation des neuen Marussia Cosworth lief ohne Razia, nur mit Max Chilton ab. In der ersten Testwoche kam Razia dennoch zwei Tage zum fahren. In der zweiten schon nicht mehr: Vier Tage Max Chilton statt je zwei Tage Chilton und Razia. Erst verflüchtigte sich Marussia in Ausreden, wonach Chilton wertvollere Ergebnisse bringen würde. Wieder war es Razia, der aufklärte: Die Sponsoren haben einfach nicht gezahlt wie vereinbart.
Jetzt fährt also Jules Bianchi für Luiz Razia. Zwischenzeitlich waren auch zwei andere Fahrer im Gespräch: Heikki Kovalainen soll sogar zur Sitzprobe im Marussia-Werk gewesen sein. Narain Karthikeyan machte sich ebenfalls Hoffnungen, jetzt wird der Inder vielleicht in die IndyCar gehen, dort beim Indy-500 der erste Inder in der Geschichte sein – nachdem er das schon in der F1-WM war. Die Russen träumten von Vitaly Petrov als Russe im Team des russischen Sportwagenherstellers Marussia, aber das war offenbar nie angedacht. Genauso wenig wie einen anderen russischen Fahrer zu verpflichten, etwa Mikhail Aleshin.
Bianchi ist gewiss die beste Wahl. Keiner weiß, wie viel Sponsoren der Franzose mitbringt. Es dürften nicht übertrieben viele sein. Viele denken: Bianchi als Ferrari-Junior könnte Marussia billiger an die Ferrari-Motoren kommen lassen. Aber das entspricht wohl nicht der Wahrheit. Vielmehr ist Bianchi sportlich ein Gewinn für Marussia. Er dürfte wohl deutlich flotter sein als Razia – und auch als der zweite Marussia-Pilot Max Chilton.
Seit 2007 fährt Bianchi Formel-Rennen, seither war er immer unter den besten drei seiner Kategorie. Aus dem Stand heraus gewann er die französische Formel-Renault, wechselte dann in die F3-Euroseries zu ART. Während sein Stallgefährte Nicolas Hülkenberg Meister wurde, wurde Bianchi Gesamt-Dritter, holte den Titel dann aber im darauf folgenden Jahr. 2010 und 2011 blieb Bianchi bei ART, stieg allerdings in die GP2 auf. In beiden Jahren wurde er Dritter. Letztes Jahr fuhr er für das Tech-1-Team in der Formel-World-Series-by-Renault und wurde Vizemeister.
Bereits 2009 fuhr er zwei Gastrennen für das SG-Team in der WSbR, 2012 war er eine volle Saison dort unterwegs. Bianchi hätte in der GP2 bleiben können, denn das ART-Team gehört keinem geringeren als Nicolas Todt, dem Sohn des FIA-Präsidenten und Ex-Ferrari-Meistermacher Jean Todt. Nicolas Todt ist auch Manager von Bianchi, fädelte den Deal mit Marussia ein, nachdem er gegen den Deutschen Manager Manfred Zimmermann den Kürzeren gezogen hat – Zimmermann hat seinen Schützling Adrian Sutil wieder zu Force India gebracht.
Bei Force India ist Bianchi 2012 Freitagstestfahrer gewesen. Genau deswegen ging er auch in die WSbR, nicht in die GP2: In der GP2 darf man an einem Rennwochenende nicht mehr an den Start gehen, wenn man im F1-Freitagstraining gefahren ist. In der WSbR war ein Doppelprogramm mit der Formel-1 möglich. Natürlich zählte er zu den absoluten Topfavoriten auf den Titel, aber lange Zeit enttäuschte der 22-Jährige. Erst am Schluss drehte er auf, musste sich aber im Finale Robin Frijns beugen, dem neuen Sauber-Testfahrer. Die Entscheidung war ein Foul: Frijns krachte mit Bianchi zusammen, wurde dafür bestraft – aber Bianchi schied aus, verlor den Titel.
Mit seinen Freitagstests hat Bianchi F1-Erfahrung gesammelt. Noch in Barcelona vor einer Woche absolvierte er einen Testtag im neuen Force India Mercedes. Als Ferrari-Junior saß Bianchi auch schon einige Testtage im F1-Ferrari, erstmals 2009. All das wird ihm, vermutlich aber auch Marussia helfen. Die meisten gehen davon aus, dass Bianchi das Duell gegen Max Chilton haushoch gewinnen wird.
Bianchi ist nicht der erste Familien-Vertreter in der Formel-1. Der erste war sein Uropa: Er war Mechaniker von Johnny Claes in dessen gegründeten F1-Team. Zwischen 1950 und 1955 fuhr Claes 23 WM-Rennen, immer dabei: Uropa Bianchi als Mechaniker. Aus Mailand stammend, siedelte er auch nach Belgien über. Deshalb taucht Lucien Bianchi in der F1-Statistik auch als Belgier auf. Er ist Jules’ Großneffe und war selbst F1-Pilot. Sein Debüt gab er 1959 im Claes-Rennstall Equipe National Belge. Bis 1968 fuhr Lucien Bianchi Rennen für Reg Parnell, Scuderia Centro Sud und Cooper. Das Highlight: Platz drei beim Monaco GP 1968 im Cooper BRM.
Aber das wirkliche Highlight in der Laufbahn von Lucien Bianchi: Der Sieg beim 24-Stundenrennen von Le Mans 1968, auf einem von John Wyer eingesetzten Ford, gemeinsam mit Pedro Rodriguez – den Sergio Perez 2013 als bisher erfolgreichster F1-Mexikaner ablösen könnte. Ein Jahr später verstarb Bianchi beim Vortraining zum Le-Mans-Klassiker. Heute ist der Rennsport viel sicherer, aber noch immer fährt die Gefahr immer mit. Das musste auch Jules Bianchi schon am eigenen Leib erfahren: 2010 in Budapest krachte er mit seinem Dallara Mécachrome von ART mit Ho-Pin Tung (DAMS) zusammen und brach sich einen Lendenwirbel. Er hatte Glück, verpasste sogar nicht einmal ein Rennen – auch weil eine Pause von vier Wochen im GP2-Rennkalender angebrochen war. In der Familien-Dynastie fehlt noch Mauro Bianchi, der Opa von Jules Bianchi. Er schaffte es nie in die Formel-1 – wurde trotzdem Weltmeister, drei Mal in der GT-Klasse.
Jules Bianchi ist inzwischen nach Frankreich übergesiedelt, vertritt jetzt nicht mehr die italienischen Wurzeln und auch nicht mehr die belgischen, sondern die französischen Flaggen. Damit ist Bianchi der vierte Franzose in der Formel, neben Romain Grosjean (Lotus), Jean-Eric Vergne (Toro Rosso) und Charles Pic (Caterham). Auch auf vier Fahrer dürfen 2013 Deutschland (Sebastian Vettel, Nico Rosberg, Nicolas Hülkenberg, Adrian Sutil) und Großbritannien (Jenson Button, Lewis Hamilton, Paul di Resta, Max Chilton) setzen – damit stellen die historischen Motorsport-Nationen Frankreich, Deutschland und Großbritannien zwölf der 22 Fahrer! Aber noch immer fehlt ein Italiener.