Über den Lotus 72 wurde zwar immer wieder diskutiert - ein spezielles Thema dazu gab/gibt es aber meiner Meinung nach nicht. Deshalb habe ich hier mal (basierend auf einen Bericht von Doug Nye) einige Fakten zusammengetragen. Da es recht viel ist, habe ich es unterteilt:
Der Lotus 49 belebte drei Saisons lang die GP-Strecken. In dieser Zeit fielen Colin Chapman zunehmend die angebotenen Nachteile dieses schlanken Einbaums auf. Der geniale Chapman fühlte sich besonders durch Graham Hills liebe Angewohnheit genervt, unzählige Runden im Training allein dafür zu opfern, den "richtigen Einfederungsanschlag" herauszufinden. Als sich Chapman später daran erinnerte, sagte er lachend: "MeinTraum war es, für Graham Hill ein Auto mit progressiver Federung zu bauen. Dann hätte er niemals einen Einfederungsanschlag finden können. Also hätte er auch nicht die ganze Zeit damit herumspielen können. Das alleine hätte mir die Saison gerettet."
Die Planung für den 49er-Nachfolger begann 1970, kurz nachdem sich der Typ 69 mit Allradantrieb als Riesenflopp herausgestellt hatte. Colin Chapman und Maurice Phillippe war klar: Beim Lotus 49 hatte den Erfolg allein bestimmt, wie gut der Cosworth-Motor integriert werden konnte. Ob der neue Lotus 72 siegen oder hinterherfahren würde, entschied sich heute an zwei Dinger; Wie gut es gelang, das Chassis mit den neuen Firestone-Reifen zu kombinieren, und wie optimal Abtrieb und Aerodynamik bei den neuen Flügelvorschriften ausgelegt werden konnten.
Wesentliches Ziel beim Entwurf des Neuen war es auch, die ungefederten Massen, vielleicht durch innenliegende Bremsen, möglichst klein zu halten. Die Bremsscheiben aus den Rädern herauszuholen hieß außerdem, die Hitzebeanspruchung auf Radträger, Felgen und Reifen sehr zu verringern. Das würde es erlauben, ging man mal von minimalem Gesamtgewicht des Wagens und weichen, stoßfrelen Laufeigenschaften aus, weichere, also schnellere Reifenmischungen als die Gegner aufzuziehen. Und zwar, ohne sie zu überhitzen und damit zu zerstören. Denn das war bisher das übliche Ergebnis, wenn man versucht hatte, nicht speziell dafür ausgelegte Rennwagen mit solchen Weichmännern zu fahren. Das hohe Ziel war, mit dem Lotus 72 praktisch ein ganzes Rennen auf "Qualifiers" durchzustehen.
Die Designer entschieden sich, der Verwirklichung der Idee durch eine Aufhängung mit progressiven Federn ein Stück näher zu kommen. Damit konnte ein sehr feinfühliges Federungsverhalten erzielt werden, ohne das Auto gleich butterweich, etwa mit vollen Tanks, durchschlagen zu lassen. Eine Drehstabfederung bot sich als feinste Lösung an, und eine Verbunddrehstabfederung brauchte dabei den wenigsten kostbaren Platz.
Der Indlanapolis-Einsatz des Typs 56 Turbinenantrieb hatte 1968 gezeigt, daß eine keilförmige Karosserie sehr wirksam Abtrieb auf den Renner erzeugte. Auch der Lotus 72 sollte ein solcher abtriebsintensiver Keil werden, deshalb wanderten die Kühler von der Nase nach mittschiffs. Hier wurden sie auf die schlanken Flanken des Wagens aufgesetzt. Damit verschwand zugleich eine Hitzequelle, die die armen Piloten der Lotus 49 oft genug halbgar geröstet hatte. Auch die Verlagerung der Öltanks ins Heck brachte dem Fahrer thermische Entlastung. Gleichzeitig konzentrierte man so mehr Gewicht auf der Hinterachse, eine Philosophie, die schon beim 49er bestimmend war. Die Bremsscheiben wanderten tatsächlich nach innen, damit entfiel eine üble Hitzequelle in den Rädern. Die Rennwalzen hatten jetzt nicht mehr den bösen Temperaturstreß, zudem konzentrierten sich die Massen günstiger um den Schwerpunkt.
Erst mal ein bisschen Technik:
Grundlage des ganzen Entwurfs war ein völlig neues, keilförmiges Monocoque-Chassis, dessen aerodynamische Wirkung durch einen ebenfalls brandneuen, dreiteiligen Heckflügel und große Frontschaufeln noch ausbalanciert wurde. Die Verbund-Drehstabfederung bestand aus einer äußeren, hohen Röhre, in der innen ein massiver Stab an einem Ende durch Keilverzahnung befestigt war. Die Röhre war an ihrem offenen Ende mit dem Chassis verbunden. Aus ihr stand der innere Stab hervor, er wiederum war mit dem Radträger verbunden und wurde durch dessen senkrechte Bewegungen aktiviert. Rohr und Stab verdrehten sich also gegeneinander. Je mehr sich die Aufhängung von ihrer "Ruhestellung" entfernte, desto größer war nun die Verdrehung der Federungsanordnung. Der sehr willkommene Effekt war eine sich selbst justierende Aufhängung, die unabhängig von der an Bord befindlichen Treibstoffmenge die Fahreigenschaften des Lotus konstant hielt. Die Verbund-Drehstabfederung hatte den großen Vorteil, daß die Stäbe bei gleicher Kennung nur die halbe Länge konventioneller Drehstäbe haben mußten. Sie beanspruchten inbords weniger Platz als Schraubenfedern. Die federnden Stäbe wurden mit kleinsten Toleranzen auf Maschinen gefertigt, auf denen sonst Gewehrläufe produziert wurden. Um die Reibung zwischen Rohr und Drehstab möglichst gering zu halten, lag zwischen beiden am Betätigungsende des Stabes ein dichtgepacktes Kugellager - aus einem Rennrollschuh!
Vorne und hinten führte der Lotus Dreiecks-Querlenker, die an der Front aus Nickel-Chrom-Molybdän-Blech und für's Heck aus Stahlrohr angefertigt waren. Ein Hilfsrahmen trug die Anlenkpunkte der vorderen Querlenker. Um das Eintauchen der Nase beim Bremsen zu verhindern, lagen die vorderen Befestigungspunkte dieser Dreieckslenker tiefer als die hinteren. Umgekehrt verhielt sich's im Heck des Rennwagens: Hier waren die hinteren Anlenkpunkte tiefer plaziert. Das Ziel war ein "Anfahrnickausgleich", im Klartext: Der Lotus sollte beim Beschleunigen nicht auf der Hinterhand in die Knie gehen. Insgesamt hatte der ganze Aufwand zum Ziel, dem 72 die ausgeglichenen Fahreigenschaften des Typs 56 beizublegen, von dem die Indy-Fahrer begeistert waren. Und man wollte endlich Herr über das schlimme Verhalten werden, das man vom Lotus 49 kannte: Beim Bremsen Nase am Boden, beim Rausbeschleunigen Hintern auf der Strecke. Die neuen, innenliegenden Bremsscheiben wirkten über speziell angefertigte Bremswellen auf die Räder. In die Frontverkleidungversenkte Lufteinlässe führten denvorderenscheiben kühlenden Fahrtwind zu, die heiße Luft trat durch Auslässe über den Bremsen wieder aus.
Das Monocoque wurde auf interne Stahlschotts aufgebaut, die inneren Bleche bestanden aus Duraluminium-Material. Für die Außenhaut wurde ein weicherer, biegsamerer Werkstoff in geringerer Stärke verbaut. Damit konnte die gewundene, nach hinten zusammenlaufende Form erreicht werden, in deren Einbuchtungen die seitlichen Kühler lagen. Um die raumfahrtmäßige versenkte Vernietung des Monocoques wurde damals viel Aufhebens gemacht. In den Seitenpontons mit ihren steil abfallenden Wänden lagen FPT Gummiblasentanks, die einen Sammeltank hinter der schräg abfallenden hinteren Sitzverkleidung versorgten. Die Wanne wurde nach vorne durch eine "foot box" verlängert, die auf einem Rahmen aus 3,2 mm (5/8 Zoll) Stahlprofilen mit rechteckigem Querschnitt aufgebaut war. Sie trug die Pedale, Hauptbremszylinder und die ganze Vorderradaufhängung. An die foot box klammerte sich ein äußerst filigran aussehenderhilfsrahmen, der die Batterie beherbergte und der windschnittigen Nase Halt gab. Rücklings war was ganz wichtiges an das Monocoque angehängt: Der DFV-Motor. Die Last der hinteren Aufhängung trugen Sandwichplatten auf den Flanken des Hewland FG-Getriebes. Durch die innenliegenden Scheibenbremsen waren die Aufhängungen vom Bremsstreß weitgehend entlastet, deshalb reichten hinten obere Längslenker. Der 72er kam mit einem neuartigen, dreiteiligen Heckflügel daher. Durch die Teilung konnte insgesamt ein größerer Anpreßdruck erzeugt werden, als mit einem steil angestellten einteiligen Flügel. Der gewaltige Abtrieb des bis über das Getriebe reichenden Spoilers wurde durch zwei verstellbare Frontflügel ausbalanciert.
Los geht's - mit Problemen!
Der erste Auftritt des neuen Stars auf der WM-Bühne gestaltete sich nicht ganz problemlos: In Jarama 1970 löste sich an Rindts Wagen vorne ein hitzedämmender Einlegring zwischen Bremsscheibe und -welle - durch Hitze - ganz einfach auf. Als Folge lösten sich die Befestigungsbolzen und brachen: Rindt hatte nur noch auf drei Rädern Bremswirkung! An seinem Chassis 72/2 lösten draufhin innenbelüftete die massiven Bremsscheiben ab. Und heiß war's in Spanien! Viel zu heiß für die neuen 72er Kühler. Deshalb vergrößerte man deren Lufteinlässe durch Distanzleisten zwischen Wagenkörper und den seitlichen Boxen. Das Format der Rennwalzen wurde vom 49C übernommen, 13 Zoll Durchmesser vorne, 15 Zoll hinten, die Felgen waren 10 und 15 Zoll breit. Als Rindt hinten versuchsweise 17-Zöller aufziehen ließ, schoben ihn die breiten Schlappen in Kurven einfach geradeaus: brutales Untersteuern.
Aber auch unabhängig von der Reifenwahl gab es später immer wieder Handlingprobleme. Die Lotus taten sich zum Beispiel ziemlich schwer, ihre kurveninneren Räder am Boden zu halten, sie rollten bisweilen wie Schiffe auf hoher See. Andererseits hatten die Chapman-Schöpfungen im Regen Grip, wo eigentlich gar keiner mehr sein durfte, sie ließen mit dieser Eigenschaft beim Regentraining in Silverstone den Zuschauern sämtliche Haare zu Berge stehen. Als aber das anschließende Rennen auf dem schnellen Kurs auch keine überzeugenden Resultate brachte, war eine Denkpause angesagt. Nach Monaco wurde nur der 72/1 als Reservewagen mitgenommen. Rindt startete auf dem 49C - und gewann!
Mittlerweile wurde in der Lotus-Basis zu Hethel unter Colin Knights Aufsicht der 72/2 operiert, sowohl Brems- als auch Anfahrnickausgleich mußten raus. Das Anti-Dive sollte verschwinden, weil es die eh ziemlich schwammige Lenkung beim Bremsen, wenn die Aufhängung härter wurde, zur haarsträubenden Gefühllosigkeit steigerte. Der Anfahrnickausgleich stand im Verdacht, eine der Ursachen zu sein, die den Lotus in Kurven das innere Hinterrad lupfen ließen. Dieses Übel war schnell beseitigt, ein neuer hinterer Hilfsrahmen löste das Problem. Vorne ergaben sich einschneidendere Konsequenzen: Durch die Veränderung des vorderen Hilfsrahmens paßte dem Renner die windschlüpfrige Haut nicht mehr, das vordere Schott mußte völlig überarbeitet werden. Dies wiederum hatte Folgen für die gesamte Verkleidung... Am Ende waren vom alten 72/2 nur noch das Schott hinter dem Cockpit und die Befestigungspunkte für den Cosworth übrig. Gründliche Arbeit.
Dem 72/1 gingen die Monteure weniger gründlich ans Fell. Schale und Vorderradaufhängung blieben unverändert, hinten wurde wie beim 72/2 verfahren. Der Bolide wurde von Rindts neuem Teamkollegen John Miles bewegt. Ein neues Auto mit paralleler Aufhängung, der 72/3 wurde für ihn zum GP Deutschland in Hockenheim fertig. Sein 72/1 wanderte in die Werkstatt, wurde total überarbeitet und Rob Walkers reichlich spät gelieferter Nachfolger für seinen wunderbaren Lotus 49C R7, den Graham Hill fuhr. Der neu aufgebaute Renner lebte unter der Serlennummer 72/4 ein nur kurzes aktives Rennerleben.
Der Lotus 72 wird ein Sieger
Endlich in Zandvoort 1970 war's dann so weit: Rindt siegt auf dem 72/2 beim Großen Preis der Niederlande! Und in Clermont-Ferrand folgte sofort der zweite Triumph, wenn auch mit etwas Glück. Rindts Chassis war durch kreuzweise Verstrebungen im hinteren Schalenbereich versteift, die Aufnahmepunkte für die Radaufhängung waren verstärkt. Zudem waren die hinteren Dämpfer aus dem heißen Luftstrom der seitlichen Kühler genommen worden, die Hitze hatte ihnen zu arg zugesetzt. Zum britischen GP in Brands Hatch führte Rindts 72 die Motorlufthutze in die moderne Formel 1 ein. Die Einlässe der Airbox lagen wie Segelohren beidseits des Überrollbügels, Lotus war wieder mal Trendsetter. Und Rindt hatte außer der neuen Lufthutze auch noch Glück: Im Rennen fuhr ihm nämlich zuerst Brabhams BT33 ungeniert vorneweg, dann ging dem schnellen Jack aber in der letzten Runde der Sprit aus und Jochen hatte die charaktervolle Nase vom: Sieg Nummer drei für Lotus 72 und Rindt! Das nächste Rennen in Hockenheim sah eine High-Speed-Schlacht zwischen Rindt und Jacky Ickx auf dem neuen Zwölfzylinder-Flachmann von Ferrari, die Rindt schließlich mit 0,7 Sekunden Vorsprung für sich entschied: Sieg Nummer vier in Reihe! Etwas ironisch verbot Jochen Rindt seinem Chef Colin Chapman im Anschluß, an dem Auto auch nur das geringste zu verändern, weil damit auch "ein dressierte Affe gewonnen hätte"!
Österreich brachte dann wieder ernsten Ärger für Lotus ... Dort entdeckten die Inspekteure, daß die seitlichen Kühler breiter als die erlaubten 110 cm waren! Also: zurückbauen. Die Piloten gingen nach der Operation ziemlich skeptisch wieder auf die Strecke und... machten auf der Geraden plötzlich ganze 200 Umdrehungen mehr! Dabei blieben in der Steiermark die Temperaturen ganz gesund, verglichen mit dem Fieber, das die Motoren in der spanischen Flußebene gepackt hatte. Ende gut, alles gut - mit Glück. Und davon hatte Miles eine Riesenportion, als an seinem Wagen im Training beim Anbremsen eine der vorderen Bremswellen brach. "Es war, als ob plötzlich eine gewaltige, außerirdische Macht das Lenkrad gepackt und bis zum Anschlag herumgerissen hätte. Zum Glück hatte ich Platz genug, die Sache auf der ganzen Breite der Strecke zu regeln. Dann lief ich ziemlich blaß und geschockt die Boxen an", kommentierte Miles die kritische Situation. Im Rennen verlor Rindt seinen vierten Rang durch einen Dreher, keine Punkte für das Team.
Die Schwachstelle des Lotus 72 kündigt sich an
Aber was hatte Miles' Bremswelle zerstört? Die Wellen waren hohl, sie sollten ein wenig federn, Schocks dämpfen und durch die Bohrung natürlich Gewicht sparen. Wie üblich war die Welle für Miles' Wagen von beiden Seiten angebohrt worden, beide Bohrungen hatten sich aber nicht exakt getroffen. Fehlspannungen an der so entstandenen Kante hatten die Welle brechen lassen. Für den weniger bedeutenden Gold Cup in Oulton Park war Rindts 72/2 mit massiven Wellen bestückt. Walkers dunkelblauer 72/4 erlebte mit Graham Hill am Steuer sein Debüt.
Dann kam der Große Preis von Italien, Monza 1970. Rindt und Miles kamen mit ihren gewohnten Wagen. Emerson Fittipaldi (der bereits vorher hin und wieder einen alten 49er bewegt hatte) stieß neu zum Team und erhielt den 72/5, einen im Werk ganz frisch gebauten Renner. Am Samstag morgen ging Rindt im 72/2 probeweise ohne Flügel auf die Strecke. Der Wagen rollte auf frischen Reifen, die Bremsbalance war völlig normal eingestellt. Beim Anbremsen der Curva Parabolica, einer Rechts, brach höchstwahrscheinlich die vordere rechte Bremswelle. Rindts Wagen schlug mit unglaublicher Wucht in die Betonbarrieren und Planken auf der linken Seite der Fahrbahn ein. Eine Plankenverbindung gab nach, der Vorderwagen geriet unter die Planke und wurde völlig zerstört, als er frontal auf einen Pfosten auftrat Die Schalenkonstruktion hielt dem gewaltigen Aufprall nicht stand, Jochen Rindt, der designierte Weltmeister, war tot. Sieben lange Jahre nach dem Unfall stellte ein italienisches Gericht zwar den Bruch der Bremswelle als Hauptursache des schrecklichen Unglücks fest, aber Rindt hätte bei richtiger Befestigung der Planken am Leben bleiben können. Gegen Ende der Saison siegte Fittipaldi auf dem 72/5 beim GP der USA in Watkins Glen, sein neuer Gefährte Reine Wisell kam als Dritter ein. Damit ging der Titel an Jochen Rindt - die wahre Freude konnte über einen toten Weltmeister aber natürlich nicht aufkommen. Lotus wurde zum vierten Mal Konstrukteursweltmeister.
Teil 2 der Lotus 72-Geschichte folgt in Kürze.