Hier kommt Teil 2 - wie gesagt - nichts wesentlich, was wir hier nicht schon diskutiert hätten - steht nicht drinnen:
Ich respektierte Ayrton seit unserem ersten Aufeinandertreffen 1984 im südafrikanischen Kyalami. Er fuhr einen Toleman-Wagen, mit dem er sich im zweiten Formel-1-Rennen seiner Karriere plazieren konnte. Danach kam er mit Krämpfen im Rücken und den Schultern ins medizinische Zentrum. Er führte sich derart auf, dass ich ihm mit einigen scharfen Worten erklärte, dass er nicht lebensgefährlich verletzt sei und dass seine Probleme das Resultat seiner körperlichen Verfassung und seiner fehlenden Fitness seien. Er begriff und beherrschte sich wieder, was man später nicht immer von ihm behaupten konnte.
Nach seiner Saison mit Toleman 1984 bekam er ein Angebot von Lotus. Zur gleichen Zeit entwickelte er Bells Gesichtslähmung - wahrscheinlich das Resultat eines Virus. Die eine Seite seines Gesichts war komplett gelähmt, er konnte das Auge nicht schließen und sein Mund hing auf der einen Seite herunter. Er und sein Team (Lotus) waren auf das Heftigste besorgt und fürchteten um die Fortsetzung seiner Karriere. Er kam in mein Londoner Krankenhaus, wo ich ihm Steroide verschrieb, um die Schwellung der Nerven zu vermindern. Er begann die Behandlung, kehrte nach Brasilien zurück, wo man ihm riet, die Medikamente wieder abzusetzen. Sein Zustand verschlimmerte sich weiter. Er rief mich an, und nahm die Tabletten weiter.
Er kam wenig später nach London in meine Sprechstunde. Das Wartezimmer war voll. Senna nahm Platz und wartete wie die anderen Patienten. Meine Sprechstundenhilfe Lynne Hencher rief die nächste Patientin, Mrs. Patel, eine ältere gelähmte Dame, hinein. Als ihr Name im Wartezimmer ausgerufen wurde, stand Senna auf und fragte Mrs. Patel, ob er ihr helfen könne. Er schob also Mrs. Patel in mein Sprechzimmer, sagte "guten Morgen, Professor" und verschwand wieder.
Einige Jahre später war er in Loretto, Jim Clarks ehemaliger Schule. Matthew, mein älterer Stiefsohn hatte ihn gebeten zu kommen. Er redete 40 Minuten zu den Schülem und antwortete danach auf alle Fragen, auch zu sensiblen Themen, wie seine Religiosität, seine Liebe zum Motorsport, die Beziehungen zu anderen Fahrern, vor allen Dingen zu Alain Prost und Nigel Mansell. Auch seine Hoffnungen für die Zukunft, seine Familie, Ehe, Kinder wurden dabei nicht ausgeklammert. Danach hatte er beim Empfang des stellvertretenden Direktors eine lange Unterhaltung mit dem Bischof von Truro, der am anderen Morgen den Gottesdienst lesen wollte. Danach nahm er noch am Abendessen teil, um anschließend wieder nach Portugal zu Testfahrten zu fliegen. Lehrer und Schüler waren von seinem Auftritt beeindruckt. Am Sonntag begann der Bischof den Gottesdienst mit dem Geständnis, dass er spirituell und verbal vom 'Prediger' Senna überholt worden war.
Ich habe viele Erinnerungen an seine Großzügigkeit. Zum Beispiel an seine finanzielle Unterstützung der Eingeborenenkinder am Amazonas, die er sofort zugesagt hatte, nachdem ich ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. In der Tat wollten wir nach der Saison 1994 das Projekt besuchen.
Nun lehnte er mit seinem Kopf an meiner Schulter und mein Arm lag um seinen Körper. Ich mußte meine Gedanken einfach loswerden: "Ayrton, warum verzichtest Du nicht auf das Rennen morgen? Warum hörst Du nicht ganz auf? Was mußt Du beweisen? Du warst Weltmeister, Du bist der schnellste Fahrer. Hör auf, geh' angeln." Er sagte nichts. Ich fuhr fort. "Ich glaube nicht, dass es das Risiko wert ist. Hör auf!!" Er sah mir in die Augen und sagte ganz ruhig: "Sid, es gibt ganz bestimmte Dinge, über die wir keine Kontrolle haben. Ich kann nicht aufhören. Ich muß weitermachen." Das waren die letzten Worte, die er mit mir gewechselt hat.
Vor dem Rennen standen die üblichen Kontrollfahrten an. Gegen ein Uhr fuhr ich über die Strecke: Die Rettungsteams, die Krankenwagen waren auf ihren Plätzen, die Ärzte und das medizinische Zentrum einsatzbereit. Es war ein herrlicher Tag. Roland Bruynseraede überprüfte die Piste, alles war bestens vorbereitet.
Die Rennwagen gingen in die Aufwärmrunde. Senna hatte die Pole Position. Mario Casoni in meinem Wagen war einsatzbereit, wie auch Dr. Baccarini, der seine Infusionen, die Halskrause und die für Wiederbelebungen notwendigen Dinge griffbereit neben sich hatte . Dr. Domenico Salcito, der stellvertretende Chef der Medizinertruppe in Imola, saß neben ihm. Es herrschte Funkstille. Die Boliden passierten uns. Die Feuerwehrwagen standen schräg hinter uns. Die Wagen nahmen ihre Positionen auf der Startaufstellung ein. Dann die grünen Fahne, die Ampel wechselt für vier bis sieben Sekunden auf Rot, dann grün. Plötzlich überall gelbe Flaggen. Beim Start war Pedro Lamy mit seinem Lotus in das Heck des Benetton von J. J. Lehto geknallt.
Casoni raste durch die Wrackteile den anderen Rennwagen hinterher. Die Piloten der zerstörten Wagen machten einen unverletzten Eindruck, daher verfolgten wird die anderen Wagen. Allerdings waren wir überzeugt, dass das Rennen abgebrochen und wieder neu gestartet werden würde. Doch als wir durch Tosa, Aque Minerali und Rivazza fuhren, wurde uns klar, dass man nicht an einen Abbruch dachte. Wir beendeten unsere Runde ohne besondere Vorkommnisse und nahmen unsere Position am Rande der Strecke ein, als die führenden Wagen ihre zweite Runde absolvierten. Um die Teile an Start und Ziel aufsammeln zu können, wurde das Feld hinter einem Pace Car versammelt. Erst später erfuhr ich, dass Räder ins Publikum geflogen waren und neun Zuschauer verletzt hatten. Nach ungefähr fünf Runden war die Piste abgeräumt.
Der Pace Car verschwand, das Rennen konnte wieder von neuem beginnen. Senna lag vorne, gefolgt von Schumacher. Wie Blitze schossen sie an uns vorbei. Meine Vorahnung war wieder da. Ich drehte mich zu Casoni. "In den nächsten Minuten wird es hier ein ganz beschissenes Unglück geben." Der Rest des Feldes verschwand am Ende der Geraden in die Tamburel-
lokurve.
Im nächsten Moment wurden schon wieder rote Fahnen geschwänkt. Casoni gab Gas, und als wir uns Tamburello näherten, wußte ich irgendwie, daß Senna verunglückt war. Er saß ohnmächtig in seinem Williams. Der Arzt aus dem ersten Eingreifteam war bei ihm, hielt seinen behelmten Kopf. Zum dritten Mal an diesem verdammten Wochenende wurde wieder der Kinnriemen durchgeschnitten, der Helm abgenommen. Wir stützten Sennas Rücken und nahmen den Helm ab. Seine Augen waren geschlossen. Er lag in tiefer Ohnmacht. Ich stellte den Atemweg sicher. Er sah heiter aus! Ich hob seine Augenlider hoch. Seine Pupillen ließen auf eine schwerwiegende Hirnverletzung schließen. Wir hoben ihn aus dem Wagen und als wir ihn auf den Asphalt legten, seufzte er. Ich bin ungläubig, doch in diesem Moment hatte ich das Gefühl, als hätte ihn seine Seele verlassen.
Weitere Unterstützung traf an der Unfallstelle ein. Dr. Pezzi intubierte Senna, der außerdem noch einige Infusionen bekam. Ich konnte zwar seinen Puls fühlen, doch ich wußte, daß er diese Verletzung nicht überleben würde. Wir riefen den Hubschrauber. Dr. Giovanni Gordini, der Anästhesist der Intensivstation im Maggiore-Hospital, kam und begleitete Senna im Hubschrauber.
Meine Begleitung hätte keinen Sinn gemacht. Ich konnte nichts mehr tun. Ich nahm Sennas Helm - seine und meine Handschuhe waren verschwunden -, um ihn im medizinischen Zentrum abzugeben. Dr. Servadei verständigte die Klinik Maggiore per Telefon über Sennas Verletzungen. Ich vervollständigte meine Ausrüstung, erfuhr vom bevorstehenden Neustart und ging zurück zum Wagen.
Der Neustart verlief ohne weitere Ereignisse, doch die folgenden zwei Stunden waren furchtbar. Als wir durch Tamburello fuhren, war die Piste mit weißem, ölaufsaugendem Puder eingefärbt. An dieser Stelle hatte ich einen guten und teuren Freund verloren. Das Rennen wurde wieder von einem Unfall überschattet. Alboreto hatte ein Rad seines Minardi verloren, das einige Mechaniker verletzte. Nach dem Rennen fuhr mich Casoni zum medizinischen Zentrum. Dort mußte ich erst einmal Peter Collins von Lotus beruhigen, der sich Sorgen um seine Mechaniker machte. Danach zog ich mich um, ließ alles stehen und liegen und flog mit Dr. Servadei ins Krankenhaus Maggiore. Ich hatte zuvor noch nach Sennas Helm gefragt, doch der war von der italienischen Polizei beschlagnahmt worden. Noch heute befindet er sich im Besitz der Carabinieri.
Im Hospital war alles für Senna getan worden. Doch die Untersuchungen und Röntgenaufnahmen hatten das Ausmaß der Verletzungen deutlich gemacht. Es gab keine Hoffnung. Sennas Bruder Leonardo und Manager Julian Jakobi warteten nervös auf die Diagnose. Dr. Servadei, Dr. Gordini und ich erklärten ihnen die hoffnungslose Situation. Gerhard Berger und Pedro Lamy tauchten auf - und Sennas Freund und Vertrauter Antonio Braga. Trotz aller Anstrengungen machten die Anzeigen für Blutdruck, Atmung und Herzschlag deutlich, dass Sennas Ende nahe war. Ich sprach mit Sennas Schwager und der Familie in Brasilien, die schon fast auf dem Weg nach Bologna waren. Sie akzeptierten die traurige Wahrheit und blieben - meinem Ratschlag folgend - in Brasilien. Ich konnte hier nichts mehr tun und fuhr ins Hotel. Im Fernsehen wiederholten sie immer wieder den Alptraum. Die Formel 1 hatte einen Wendepunkt erreicht.