Ich mach jetzt jeden Tag ein Portrait zu den 22 F1-Fahrern. Beginnen tu ich von hinten: Luiz Razia
Luiz Razia - Der größte Sieg
Wie viel Geld bringt Luiz Razia mit ins Marussia-Team? Angeblich mehr als Teamkollege Max Chilton. Die Rede ist von einem zweistelligen Millionen-Betrag, manche Medien spekulieren sogar von einer unfassbaren Summe von bis zu 30 Millionen US-Dollar! Wie dem auch sei, finanziell ist der Fahrerwechsel Luiz Razia für Timo Glock für das Marussia-Team ein Gewinn. Glock hat Geld gekostet, Razia bringt welches mit. Nur so ist das finanzielle Überleben des Marussia-Teams gesichert – zumindest vorübergehend.
Wie sieht es aber sportlich aus? Timo Glock war gewiss eine feste Größe im Marussia-Team. Routiniert, abgeklärt und nur selten mit Fehlern. Und wenn er mal Fehler machte, dann kämpfte er trotzdem bis zum Schluss – obschon er im Marussia Cosworth meistens aussichtslos hinterherfuhr, gerade mal noch vor dem HRT-Team. Bestes Beispiel der Singapur GP 2012: Glock kracht mit dem Wagen gegen die Mauer, fuhr aber weiter – und wurde Zwölfter. Das hätte fast für Rang zehn in der Konstrukteurswertung gereicht, womit Glock vielleicht hätte bleiben können. Stattdessen wurde Vitaly Petrov für Caterham in Brasilien aber noch Elfter und Glock fährt jetzt für BMW in der DTM.
Glock war kein Ausnahmekönner. Aber für ein Team wie Marussia eine wichtiger Baustein, auf den man bauen konnte. Jetzt fährt Marussia mit Max Chilton und Luiz Razia, beides Bezahlfahrer, beides aber vor allem F1-Piloten ohne Rennerfahrung in der Königsklasse des Motorsports. Es kommt nicht oft vor, dass ein Team auf zwei Rookies setzt. Letztmals war das 2010 der Fall, als HRT mit Bruno Senna und Karun Chandhok fuhr. Weitere Beispiele: Jan Lammers und Elio de Angelis 1979 bei Shadow, Stefan Johansson und David Kennedy (jetzt Mitbesitzer des GP3-Teams Status) 1980 bei Shadow, Stefan Bellof und Martin Brundle 1984 bei Tyrrell, Christijan Albers und Patrick Friesacher 2005 bei Minardi und auch Narain Karthikeyan und Tiago Monteiro 2005 bei Jordan.
Glock glaubt: Marussia hat mit der unerfahrenen Fahrerpaarung ein Nachteil. Das mag stimmen, aber die noch größeren Probleme sind andere: Geldmangel, technische Rückstände etwa durch den Cosworth-Motor und die finanziellen Rahmenbedingungen in der Weltwirtschaft. Der nahezu sponsorleere F1-Flitzer von Marussia zeigt es eindrucksvoll: Teams wie Marussia finden kaum Geldgeber. Dennoch hofft Marussia auf einen Sprung nach vorn: Immerhin kommt 2013 erstmals das Energierückgewinnungssystem KERS zum Einsatz, darüber hinaus darf der Technikchef Pat Symonds (Stichwort Singapur 2008) nach seiner Strafe auch wieder an der Rennstrecke für Marussia arbeiten und die Technikpartnerschaft mit McLaren soll endlich Früchte tragen.
Und dann gibt es noch einen weiteren Punkt: Marussia mag zwar eine voll unerfahrene Fahrerpaarung haben, aber der direkte Gegner Caterham steht in dieser Beziehung kaum besser da: Charles Pic fuhr zwar schon eine F1-Saison (für Marussia), aber Giedo van der Garde ist auch neu. Zudem sind Chilton und Razia nicht ganz F1 unerfahren: Beide absolvierten seit drei Jahren schon F1-Tests, Chilton für Marussia und Force India, Razia für Marussia und Caterham. 2010 wurde Razia als Testfahrer von Marussia vorgestellt, 2011 wechselte er zu Caterham – das GP-Debüt 2013 ist also quasi die Rückkehr in die Mannschaft von John Booth.
Wie gut ist Luiz Razia fahrerisch? 2012 schloss er das GP2-Jahr im Team der Familie Horner (Christian Horner ist Red-Bull-Teamchef in der Formel-1) als Vizemeister ab. Meister wurde Lotus-Testfahrer Davide Valsecchi. Überhaupt ist das der größte Sieg von Luiz Razia: Bisher musste er sich immer Valsecchi beugen, jetzt hat er ein F1-Cockpit, Valsecchi aber nicht! 2011 fuhren beide im Caterham-Team von Tony Fernandes in der GP2. Beide testeten parallel dazu für das F1-Team. Valsecchi setzte aber die Highlights, gewann etwa das Hauptrennen in Monaco, vielleicht das wichtigste Rennen des Jahres, auf jeden Fall aber das prestigeträchtigste. Aber schon 2011 fiel auf: In der zweiten Saisonhälfte kam Razia immer besser in Fahrt. 2012 war er stets vorne dabei, gewann vier Rennen und wurde so Vizemeister.
Kritiker werfen ein: Razia hatte zuvor allerdings auch schon drei GP2-Jahre auf dem Buckel, kam ja 2009 mit dem Coloni-Team in die GP2, fuhr 2010 für Rapax, als sein damaliger Teamkollege Pastor Maldonado Meister wurde. Doch auch Valsecchi, Van der Garde und andere Fahrer hatten schon einige GP2-Rennen und -Jahre auf dem Buckel. Das kann Razias Leistung nicht wirklich schmälern. Nur die Tatsache, dass der GP2-Jahrgang 2012 nicht zu den stärksten gehört, lässt sich kaum wegdiskutieren.
Ein Blick auf die bisherige Karriere von Razia zeigt: Der 23-Jährige erlebte schon allerhand Höhen und Tiefen. 2005 stieg er in Brasilien in den Formel-Sport ein, wurde 2006 Meister in der südamerikanischen Formel-3. Noch im selben Jahr trat er auch in den internationalen Wettbewerb, fuhr drei Rennen in der internationalen Formel-Master (F3000) – und gewann alle drei Rennen! Damit wurde er Gesamt-Achter. Andererseits war das Fahrerfeld damals nicht wirklich stark besetzt: Razia fuhr im tschechischen Charouz-Team, das jetzt in der Formel-World-Series-by-Renault unterwegs ist. Als Teamkollegen hatte er nur tschechische Rennfahrer, den späteren Meister Jan Charouz (Sohn von Teambesitzer Antonín Charouz), Filip Salaquarda (dessen Vater Igor auch ein Team in der WSbR hat), sowie Ex-Jordan-F1-Testfahrer Janislav Janis.
2007 und 2008 fuhr er hauptsächlich für das ELK-Team in der europäischen Formel-3000, heute als Auto-GP bekannt. Schon damals war die Serie keine Top-Adresse, wurde aber durchaus beachtet. Razia wurde Gesamt-Dritter und Gesamt-Vierter, aber das Jahr 2008 war de facto eine Niederlage: Sein Teamkollege wurde Meister. Zwar ist Nicolas Prost immerhin der Sohn des viermaligen F1-Weltmeisters Alain Prost, aber das Talent vom Vater hat er nur bedingt geerbt, kam darüber hinaus einfach zu spät zum Rennsport. 2012 fuhr Prost seinen ersten F1-Test für Lotus, jetzt ist er wie Davide Valsecchi bei Lotus F1-Testfahrer, fährt parallel dazu für das schweizer Rebellion-Team einen Lola Toyota in der Sportwagen-Weltmeisterschaft – unter anderem mit Ex-F1-Fahrer Nick Heidfeld.
Seit 2009 ist Razia nun eben in der GP2 unterwegs gewesen. Zu all diesen Stationen kommen noch wenige Auftritte in der A1GP-Serie, sowie in der WSbR, wo er 2007 vier Rennen für das GD-Team aus Italien bestritt.
Razias Familie ist Motorsport begeistert, setzte sogar schon ein eigenes Rennteam ein, unter anderem in der südamerikanischen Formel-3. Als Razia 2006 dort Meister wurde, wurde sein Dallara Berta vom familieneigenen Rennteam eingesetzt. In Europa tauchte das Team, das derzeit kaum in Erscheinung tritt, aber noch nicht auf. Dafür Luiz Razia – jetzt sogar in der Formel-1!
Im Duell mit Max Chilton werden Razia sehr gute Chancen ausgerechnet. Chilton wurde 2012 auch nur Vierter in der Gesamtwertung, überzeugte in seiner bisherigen Karriere noch weniger als Razia. Zudem ist der Brasilianer noch erfahrener als Chilton. Beide haben aber eines gemeinsam: Spendierfreudige Familien und Geldgeber. Jetzt liegt es an ihnen zu zeigen, ob sie ihren Platz in der Formel-1 auch verdient haben.
Razias Problem: Seine Sponsoren scheinen mit dem Zahlen zu zögern. In der zweiten Testwoche in Barcelona musste der Brasilianer zuschauen. Inzwischen werden drei Fahrer als mögliche Ersatzfahrer gehandelt: Narain Karthikeyan, Jules Bianchi (er könnte Marussia mit Ferrari bezüglich Ferrari-Motoren für 2014 in Verbindung bringen), sowie Heikki Kovalainen, der von Martin Whitmarsh unterstützt wird. Whitmarsh holte Kovalainen bereits zu McLaren, jetzt arbeitet McLaren mit Marussia technisch zusammen.