Über kaum ein Thema wird in der Formel 1 in solch einer Einigkeit geschimpft wie über die Track Limits. Doch seit Jahren wird die Königsklasse das Problem nicht los. Falls man den Fahrern Freiraum gewährt, wie es unter Rennleiter Michael Masi häufig der Fall war, kosten sie diesen Freiraum bis zum Anschlag - und nicht selten etwas darüber hinaus - aus. Die harte Linie, welche Niels Wittich durchzieht, wird aber ebenfalls vollkommen ausgereizt - mit einem ähnlichen Ergebnis.

2023 standen die Track Limits mehr im Fokus denn je. Kam es tatsächlich häufiger zu Vergehen oder schien es nur so? Wir haben nachgerechnet und verglichen mit 2022 fällt das Fazit eindeutig aus: Obwohl die selbe Anzahl von Rennwochenenden im Kalender stand, gab es in der abgelaufenen Saison mehr als doppelt so viele Vergehen wie ein Jahr zuvor.

Formel 1 2023: So viel Runden wurden gestrichen

Um es in präzisen Zahlen auszudrücken: 694 Übertretungen zählte die Rennleitung 2023, 2022 waren es gerade einmal 333. Eins zu eins lässt sich dieser Vergleich aber nicht herstellen, denn es gab mehrere Veränderungen im Rennkalender und außerdem wurden doppelt so viele Sprints ausgetragen. Aufgrund des geänderten Sprint-Formats gab es in Form des Shootouts noch eine weitere Session, in der die Streckenbegrenzungen überwacht wurden.

Das erklärt schon einen Teil dieser Differenz. Denn mit Katar rückte beispielsweise eine Strecke in den Rennkalender, die für Track-Limit-Vergehen prädestiniert ist - und das auch noch mit Sprint. 127 Vergehen wurden allein am Renn-Wochenende auf dem Losail International Circuit registriert. Nur in Österreich gab es mit 150 Fällen mehr Vergehen.

Doch auch wenn man nur jene Grands Prix heranzieht, die an beiden Jahren im Kalender waren und dabei jeweils bei trockenen Bedingungen über die Bühne gingen, liegt 2023 deutlich vorne.

Im Schnitt gab es bei einem GP in diesem Jahr 17,8 Vergehen gegen die Streckenbegrenzungen, verglichen mit 11,6 in der ersten Saison der neue Regel-Generation. Ein ähnliches Muster setzt sich auch auf eine Runde fort. Die durchschnittliche Zahl der Track-Limit-Vergehen verdoppelte sich in etwa von 4,1 auf 8,4 pro aussagekräftiger Session.

Vor allem im Vergleich mit der Zeit bevor Niels Wittich die Rolle als Rennleiter übernahm, sind die Zahlen der Track-Limit-Verstöße aber astronomisch hoch. 2021 beispielsweise: An einem durchschnittlichen Wochenende griffen die Stewards bei elf relevanten Runden (Qualifying, Sprint oder Rennen) aufgrund von Track-Limit-Vergehen ein, 2022 waren es 15,1 und im Vorjahr 31,5.

Dieser Aufschwung liegt aber nicht nur an der weicheren Linie, welche damals durchgezogen wurde, sondern auch an einem zweiten Aspekt. Bis 2021 wurde bereits im Training damit begonnen, Runden zu streichen und diese Streichungen zu kommunizieren. So konnten sich die Fahrer eine Referenz bilden, ein Privileg das sie seit 2022 nicht mehr genießen. Teilweise kam es außerdem nach den Trainings in gewissen Kurven zu Änderungen an der Handhabe .

Warum die Anzahl der Verstöße im Vergleich zu 2022 nach oben geschossen ist, lässt sich hingegen schwerer sagen. Die Rennleitung fuhr bereits 2022 eine rigorose Linie, die keinen Spielraum außerhalb der weißen Linie zuließ. Eine Erklärung könnte das knappere Mittelfeld in diesem Jahr sein. Geringere Abstände führen zu mehr direkten Zweikämpfen und dazu, dass jeder Millimeter ausgereizt werden muss.

Dass das für sich eine Verdoppelung zur Folge haben kann, ist aber schwer zu glauben. Eine andere Mutmaßung könnte sein, dass 2023 einfach genauer hingeschaut wurde, während Fahrer möglicherweise für knappe Vergehen im Jahr davor noch eher davonkommen konnten.

So kam es zu den Track-Limit-Dramen 2023

Was in all diesen Statistiken 2023 übrigens nicht auftaucht, ist Kurve 6 in Austin. Dort wurden zahlreiche Vergehen nicht geahndet. Das 'Recht auf Neubeurteilung', auf das sich Haas gegen die nicht ordnungsgemäß durchgesetzten Strafen berief, wurde dennoch abgeschmettert, da die vorgelegten Beweismittel nicht als "neu" eingestuft wurden.

Das Problem war in diesem Fall eine falsch ausgerichtete Kamera, die die betreffende Stelle nicht im Blick hatte - also eine GP-spezifische Ursache, die leicht zu beheben ist. Doch in Österreich war es ein grundsätzliches Problem. Genauso wie Katar verzeichnete der Red Bull Ring aufgrund seiner Charakteristik außergewöhnlich viele potenzielle Vergehen.

1200 mal vermeldeten die elektronischen Messschleifen dort einen möglichen Übertritt. Das war zu viel für die vier menschlichen Stewards im ROC (Remote Operations Centre) in Genf, um noch während dem Rennen alle Fälle zu bearbeiten und Strafen verteilen zu können.

Track Limits en masse: Ist KI die Lösung?

Dieses Problem und damit auch die teilweise lange Dauer, bis die Fahrer überhaupt über eine Übertretung informiert werden, soll 2024 mithilfe von KI gelöst werden. In Abu Dhabi wurde bereits ein System ausgetestet, das auf künstliche Intelligenz setzt. Diese soll in der Lage sein, eindeutige Übertretungen herauszufiltern, wodurch nur die strittigen Fälle von Menschenhand bearbeitet werden müssen.

Eine kurzfristigere Lösung sorgte schon in Katar dafür, dass die Strafen zeitnah ausgesprochen werden konnten: Die Anzahl der 'Linienrichter' wurde auf acht verdoppelt. Dass dort die Kerbs drohten, zum Reifenkiller zu werden, und dadurch verpflichtende Maximalstints pro Satz eingeführt werden mussten, ist ein anderes Thema. Doch die Kommunikation war auch dort alles andere als ideal.